Nürnberg – Im Klassenzimmer ist es völlig ruhig. Trotzdem „sprechen“ Lehrerin Rosa Reinhardt und ihre Schüler die ganze Zeit miteinander. Sie benutzen dafür Gestik und Mimik.
Reinhardt unterrichtet seit diesem Schuljahr am Nürnberger Hans-Sachs-GymnasiumZehntklässler in Gebärdensprache. Es ist für die fünfzehn Schüler ein Wahlfach wie Theater oder Chor – und zumindest in Bayern einmalig.
Reinhardt und ihre Schüler meistern dabei noch eine besondere Herausforderung: Die Dozentin ist seit ihrer Geburt gehörlos. Große Probleme gibt es dadurch aus Sicht der 49-Jährigen nicht: „Ohne Dolmetscher spüre ich anfangs die Hemmungen der Schüler, die sich jedoch mit der Zeit lösen.“ Nur in der ersten Unterrichtsstunde war eine Übersetzerin dabei, mit deren Hilfe organisatorische Dinge geklärt wurden. „Außerdem konnten die Schüler ihre Fragen zur Gehörlosigkeit an die Dozentin los werden“, erzählt Lehrer Oliver Neumann, der das Wahlfach mitorganisiert hat. „Etwa: Was machen Sie, wenn das Telefon klingelt? Oder: Waren Sie früher in der Disco?“
Inzwischen klappt die Verständigung schon recht gut. Reinhardt schreibt zur Erklärung viel an die Tafel. Die wichtigsten Gesten sitzen in der dritten von zehn Stunden schon. „Meistens erhalte ich von den Schülern Unterstützung. Wenn ich zum Beispiel etwas gebärde und nicht verstanden werde, erklärt es ein Mitschüler den anderen“, erklärt die Dozentin. Und als eine Schülerin einmal so in ihr Blatt vertieft ist, dass sie nicht merkt, dass sie aufgerufen wurde, nimmt Reinhardt einfach die Füße zu Hilfe und trampelt ein paarmal laut auf den Boden.
Die Idee für das Wahlfach kam der Schule nach einem Unesco-Projekttag, an dem es einen Workshop zur Gebärdensprache gab. „Das Interesse war so groß, dass wir es regelmäßig anbieten wollten“, sagt Neumann. Die 15 Kursplätze waren schnell voll. Der Unterricht wird in Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Ararat-Akademie angeboten, bei der auch Reinhardt arbeitet. Die Schüler müssen für den Kurs 20 Euro bezahlen, den Rest der etwa 1000 Euro Gesamtkosten finanzieren Schule und Akademie.
Die Schüler haben noch bis in den Januar hinein Unterricht im Sprechen mit den Händen. Zum Schluss bekommen sie ein Zertifikat für das unterste Sprachniveau der Deutschen Gebärdensprache (DGS 1).
Die 15-jährige Mie Beer findet den Kurs sinnvoll. „Später kann das sehr hilfreich sein“, sagt sie – etwa in sozialen Berufen. Mie gibt jedoch zu: „Wenn es diesen Kurs nicht gegeben hätte, hätte ich es nicht gelernt.“ Auch Bayerns Kultusministerium findet die Initiative „sehr interessant“, weil es den sozialen Umgang mit behinderten Menschen erlebbar mache, sagt ein Sprecher.
Nach Angaben des Gehörlosen-Bundes leben in Deutschland etwa 80 000 Gehörlose. Der Verband begrüßt die Nürnberger Initiative. „Die Gebärdensprache schon in jungen Jahren zu erlernen, ermöglicht eine immer besser funktionierende, inklusive Gemeinschaft“, teilt eine Sprecherin mit. „In jungen Jahren erlernt man eine Sprache schneller und einfacher als im Erwachsenenalter.“ Wichtig sei eine gute Ausbildung der Dozenten und die Arbeit mit visuellen Medien. Laut dem Verband soll es in Hamburg vom nächsten Schuljahr an ein einheitliches Gebärdensprach-Angebot in Regelschulen geben.
Um ihre Schüler auch am späten Nachmittag bei Laune zu halten, baut Rosa Reinhardt Spiele in den Unterricht ein – so müssen die Zehntklässler etwa pantomimisch Sportarten wie Kugelstoßen, Kanufahren oder Fechten vormachen und raten. Danach lernen sie die Geste für den jeweiligen Sport – sie ist meist simpel, aber eindeutig. „Vieles in der Gebärdensprache ist logisch oder man weiß es sowieso“, sagt Schüler Süleyman Uluköylü (17). Die Gebärden seien daher nicht schwerer zu lernen als eine Fremdsprache.
Mie ergänzt: „Das Schwierige ist, sich die ganzen Gebärden zu merken und Mimik und Mundbild mitzumachen.“ Das Formen der Lippen wie beim Sprechen vergessen die Schüler ab und zu. Doch es ist wichtig, um gleiche oder ähnliche Gebärden in der Bedeutung zu variieren.
Für Süleyman hat sich der Kurs schon jetzt ausgezahlt, denn er hat einen gehörlosen Verwandten, mit dem er sich bisher kaum austauschen konnte. „Wir konnten nur über Mimik kommunizieren“, erzählt der 17-Jährige. Auch Mie nutzt ihre neuen Kenntnisse bereits – wenn auch nicht ganz so, wie wohl von den Dozenten gedacht: „Man kann mit Gebärden auch mal jemand anderem etwas im Unterricht mitteilen, ohne dass es jemand hört. Das kann sehr nützlich sein“, sagt die 15-Jährige und lacht.