Inklusion ist heutzutage hochaktuell in unserer Gesellschaft. Viele gehörlose Eltern in Deutschland müssen jedoch kämpfen, wenn es um eine volle Kostenübernahme für den Dolmetschereinsatz in Kindergarten und Schule geht. Doch was ist, wenn Inklusion in einem Land selbstverständlich ist und das Kind jedoch nicht in die inklusive Schule gehen möchte? Familie Vermeersch erzählt Taubenschlag von ihrer persönlichen Erfahrung:
Sabine (33 Jahre alt) und Kristof (34 Jahre alt) sahen sich vor Jahren öfter auf verschiedenen Fussballturnieren und kamen sich näher. Beide verliebten sich vor 7 Jahren und Sabine zog zu ihm nach Belgien ans Meer. Sie fühlte sich dort schnell heimisch, fand viele neue Freunde und sogar eine Arbeitsstelle. Es schien perfekt zu sein und beide haben das gemeinsame Leben genossen. Doch Sabine hatte gleich Bedenken, als sie erfuhr, dass die Schule für gehörlose Kinder in ihrem Bezirk geschlossen wurde. In anderen Bezirken gibt es zwar noch eine Gehörlosenschule, dort können die Kinder jedoch nur die Grundschule besuchen und müssen danach auf die inklusive weiterführende Schule. Denn Inklusion wurde in den letzten 10 Jahren in Belgien fast überall umgesetzt. Die Dolmetscherkosten für Kindergarten und Schulen werden komplett übernommen. Davon können viele gehörlose Eltern in Deutschland nur träumen. In Belgien gehen viele gehörlose Kinder in die inklusive Schule und das Cochlea-Implantat (CI) ist dort stark verbreitet, damit die Kinder auch mit hörenden Kinder kommunizieren können und nicht voll vom Dolmetscher abhängig sind. Sabine sprach Kristof auf dieses Thema an, er meinte, dass es okay wäre. Denn er kennt es nicht anders. Sabine war entsetzt, doch beide wollten es einfach abwarten.
Dann kam das erste gemeinsame Kind Seno im September 2012 auf die Welt. Nach der Geburt wurde festgestellt, dass er 100% taub ist. Da kam wieder das Thema CI auf. Sabine blieb hart. Sie wuchs in einer gehörlosen Familie auf und ist stolz auf ihre Kultur und ihre Sprache. Deshalb kam CI für sie nicht in Frage. Sie wünscht sich, dass Seno eine Chance bekommt, taub sein zu dürfen. Beide wollten sehen, wie Seno sich entwickelt. In der Krippe schien er sich wohl zu fühlen, da die Erzieher gebärden konnten und er für Kommunikation mit anderen Kleinkindern noch zu klein war. Dann kam er in den Kindergarten, da wurde viel mehr kommuniziert. Er zog sich gleich zurück und war total in sich gekehrt. Er blieb nur in der Nähe der Dolmetscherin und war auf sie fixiert. Sabine litt sehr mit Seno. Kristof sah ein, dass es so nicht weiter gehen konnte. Im Gehörlosenzentrum gab es eine Kindergruppe, da waren auch hörende Kinder dabei. Somit waren gehörlose und hörende Kinder immer zusammen. Manche gebärdeten. Viele Kinder sprachen aber in Lautsprache untereinander. Dort wird gehörlose Kultur irgendwie nicht richtig ausgelebt. In dieser Gruppe fühlte sich Seno nicht wohl. Als Emma im Oktober 2014 auch taub auf die Welt kam, war es für Sabine zu viel. Sie möchte nicht, dass ihre 2 tauben Kinder in Belgien unglücklich aufwachsen und sich nirgendwo zugehörig fühlen.
Sabine suchte Austausch mit anderen belgischen Eltern. Doch sie akzeptieren diese Entwicklung in Belgien: CI und Inklusion in der hörenden Welt. Denn sie hatten ja keine andere Wahl. Es gibt zwar taube Kinder, die in der Schule für Hörende nicht so gut klar kommen, dann werden sie aber einfach von den Eltern ermutigt, weiter durch zu halten. Das ist für Sabine unvorstellbar und sie hatte immer im Kopf: „In Deutschland ist alles anders, dort kann ein Kind, das mit dem CI und Lautsprache nicht zurechtkommt, eine Schule für gehörlose Kinder besuchen. Und einfach das Leben als Gehörlose ausleben.“ Das ließ sie einfach nicht mehr los und so sprach sie Kristof eines Tages an: „Wir ziehen nach Deutschland.“ Natürlich war Kristof nicht gleich begeistert, doch ihm war ja schon immer klar, dass er mit einer deutsche Frau eine Beziehung eingegangen ist und mit ihr 2 Kinder hat. Er musste damit rechnen, dass ein Umzug nach Deutschland irgendwann zur Sprache kam.
Zurück nach Deutschland
Beide diskutierten lange darüber. Sabine ist in Hessen geboren und dort aufgewachsen. Wenn die Familie nach Hessen gezogen wäre, dann wäre Belgien 6 Autostunden entfernt. So gingen beide einen Kompromiss ein und sahen diesen in NRW. Der Kindergarten und die Grundschule in Gelsenkirchen haben einen guten Ruf und so besuchte Seno diesen 5 Tage zur Probe. Sabine erkannte ihr Kind danach nicht mehr, statt ein stilles in sich gekehrtes Kind stand da ein glückliches strahlendes Kind vor ihr. Er blühte im Kindergarten unter den gebärdenden Kindern auf. Sabine war total glücklich und Kristof wurde davon überzeugt, dass der Umzug nach Deutschland eine richtige Entscheidung ist.
So zog die Familie im Sommer 2016 nach Recklinghausen in der Nähe von Gelsenkirchen. Seno besuchte seitdem den Kindergarten in Gelsenkirchen und freut sich jeden Morgen auf den Kindergarten. Jedes Mal ist er enttäuscht, wenn er am Samstag aufwacht und feststellt, dass es Wochenende ist und er nicht in den Kindergarten gehen kann. Emma besuchte kurz die Krippe, doch die Erzieher waren total hilflos, wie sie mit ihr umgehen können. Emma weinte die ganze Zeit. So behielt Sabine sie bei sich zu Hause, bis sie ab Oktober den Kindergarten für gehörlose Kinder besuchen kann. Kristof hat die Chance auf eine Stelle als Erzieher in Münster. Heute sind die Eltern sich einig, dass es die richtige Entscheidung war: „Unsere Kinder sind unsere Zukunft, so war es für uns wichtig, dass sie glücklich sind, auch wenn es ein Umzug in anderen Land bedeutet.“ Seno hat wirklich großes Glück mit seiner Familie, dass sein Wohl ernst genommen wurde und er ein glückliches taubes Kind sein darf.