In den letzten Jahren sind die sogenannten “Babygebärden” (auch “Babyzeichensprache” oder “Baby Sign” genannt) zunehmend beliebter geworden. Auf vielen Webseiten kann man über die Vorteile von “Babyzeichensprache” lesen, sowohl für die Eltern als auch für das Kind.
Das Hauptargument für Babygebärden ist, dass Kinder viel früher mit den Händen kommunizieren können als mit der Stimme. Die Gebärden sollen helfen, schon früh eigene Wünsche und Beobachtungen auszudrücken und so den Frust zu mindern, der entsteht, wenn Bedürfnisse nicht mitgeteilt und verstanden werden.
Die Webseiten in dem Bereich sind hauptsächlich für hörende Eltern mit hörenden Kindern konzipiert — mit Lehr- und Informationsvideos auf Lautsprache ohne Untertitelung. Schließlich sind es ja hauptsächlich hörende Eltern, die überzeugt werden müssen, mit ihren Kindern zu gebärden.
Im scharfen Gegensatz dazu werden hörende Eltern mit gehörlosen Babys immer noch von vielen Ärzten und anderen Professionellen dahingehend beraten, auf Gebärden zu verzichten und das Kind zu zwingen, ausschließlich Lautsprache mithilfe des Restgehörs oder Cochlea-Implantate (CIs) und Lippenlesen zu lernen. Als Folge davon können gehörlose Kinder mit hörenden Eltern an sprachlicher Deprivation leiden. Für die kognitive und emotionelle Entwicklung eines Kindes ist das Erlernen einer Sprache dringend notwendig. Dadurch kann das Kind über sich und die Welt lernen, seine Wünsche und Ängste äußern und die Bindung zu den Eltern stärken.
Auf der einen Seite gelten Gebärden als eine trendige Gelegenheit, hörenden Babys bei der Kommunikation und der emotionellen Entwicklung zu unterstützen und ihnen fortdauernde Vorteile zu geben. Auf der anderen Seite wird diese Gelegenheit tauben Babys — denjenigen, die eine visuelle Sprache am meisten brauchen — mit Absicht vorenthalten, weil behauptet wird, sie lenke vom mündlichen Sprechen ab.
Die Behauptung, dass Gebärdensprache ein Hindernis sei, wurde übrigens schon längst widerlegt. Sie wird jedoch immer noch ohne experimentellen Nachweis verbreitet, jedoch meistens nur im Kontext von gehörlosen Kindern. Wenn hingegen von “Babyzeichensprache” die Rede ist, gibt es fast nur Vorteile. Genauso ist es bei anderen Fällen von Zweisprachigkeit bei hörenden Kindern — viele Eltern schicken ihre Kinder in bilinguale Kitas, um ihnen einen Vorsprung zu geben.
In einem Artikel für die New York Times erklärt Rachel Kolb (gehörlos), dass sie sich immer darüber freut, wenn Eltern ihr erzählen, sie verwenden Babygebärden mit ihrem Kind. “Doch ein Teil von mir stört sich daran, wenn Babygebärden im luftleeren Raum vermarktet werden, isoliert von ihren Ursprüngen in der vollen, reichen amerikanischen Gebärdensprache, die ich kenne”, sagt sie.
Wie Rachel Kolb schreibt, stehe auf vielen der Webseiten und in vielen der Bücher über Baby Sign, dass für die Eltern die Beherrschung der Gebärdensprache nicht notwendig ist. Wenn das Kind, mündlich zu sprechen beginnt, können die Gebärden ruhig vergessen werden, da sie ihren Zweck schon erfüllt hätten.
Obwohl Gebärdensprachen von Gehörlosen stammen, ist diese Umfunktionierung der natürlichen Gebärdensprachen in Baby Sign etwas, wovon hauptsächlich hörende Kinder profitieren, während gehörlose Kinder hörender Eltern allzu oft kämpfen müssen, um auch nur eine Sprache ausreichend zu lernen.
Wenn Rachel Kolbs Bekannte ihr erzählen, dass sie Baby Sign mit ihren Kindern verwenden, hat sie auch einen anderen Grund, sich ambivalent zu fühlen. “Oft bemerke ich, dass diese Bekannten Leute sind, die nie versucht haben, auch nur ein kleines bisschen Gebärdensprache mit mir zu benutzen – obwohl ich taub bin, obwohl ich die einzige Person bin, die sie kennen, die am meisten von visueller Kommunikation profitieren kann. Diese Unterlassung erscheint mir als ein großer Verlust, sogar eine große Ungerechtigkeit.”
Das Problem ist nicht, dass Gebärdensprachen (wenn auch nur Teile davon) als eine trendige Kommunikationsergänzung für hörende Babys gelten. Das Problem ist, dass dies zur gleichen Zeit geschieht, während gehörlosen Kindern immer noch der Zugang zur Gebärdensprache verweigert wird, weil Ärzte und Logopäden deren Eltern ohne wissenschaftlichen Grund davon abraten.
Rachel Kolb fasste zusammen: “Die grundlegende Ungerechtigkeit des Baby-Gebärdensprache-Trends ist, dass unsere Kultur die Vorteile des Gebärdens für hörende Kinder anpreist, aber [Gebärdensprache] für die gehörlosen Kinder, die es am meisten brauchen, missachtet.”
In Deutschland haben Eltern gehörloser Kinder einen Anspruch auf einen Hausgebärdensprachkurs. Das Erlernen einer Gebärdensprache schließt andere Kommunikationsmöglichkeiten nicht aus und verengt ihre Zukunft nicht, doch mit der Gebärdensprache können Eltern tauber Kinder sich darauf verlassen, dass ihre Kinder nie in der Sprachlosigkeit isoliert werden.