Seit einiger Zeit wird innerhalb der Taubengemeinschaft stark über den Begriff der „Kulturellen Aneignung“ diskutiert. In der taz [1], der DGZ, auf Facebook, einer Podiumsdiskussion der GGKG [2] und auch Sehen statt Hören [3] hat darüber berichtet. Anlass dieses Kommentars ist, dass ich die Diskussion gerne weiterführen möchte, da mir einige Punkte wichtig sind, die in meinen Augen bisher zu wenig Raum erfahren haben. Meine Eckpunkte sind hierbei, dass ich das Konzept der sogenannten „Kulturellen Aneignung“ als geeignete Theorie in Frage stellen und von einer notwendigen Diskussion um Macht, Zugangsmöglichkeiten und Repräsentation abgrenzen möchte. Meine Überlegungen hierzu sind nicht erschöpfend, ich sehe mich nicht als Expertin zu dem Thema sondern möchte lediglich meine Überlegungen in diese komplexe Diskussion einbringen.
Gebärdensprachübersetzung von Benedikt J. Sequeira Gerardo
„Kulturelle Aneignung“ soll einen Prozess beschreiben, in dem sich Mitglieder der Mehrheits-/Dominanzkultur an kulturellen Gütern/Merkmalen von Minderheitenkulturen bedienen und diese zu ihrem Vorteil nutzen, ohne das jedoch die Minderheitenkultur davon profitiert. Teilweise wird auch argumentiert, dass die Mitglieder der Dominanzkultur dies tun, ohne die Bedeutung der Symbole/Güter der Minderheitenkultur tatsächlich verstehen zu können [4]. Aktuell entzündet sich diese Diskussion um das Dolmetschen von Musik durch hörende Dolmetscher*innen. Also der hierdurch stattfindenden Vereinnahmung von Gebärdensprache durch hörende Menschen, da diese nicht mit tauben Kollge*innen zusammenarbeiten. Positive Beispiele aus anderen Ländern gibt es dazu bereits [5,6]. Nach deren Lektüre stellt sich mir auch die Frage, was denn dagegen spricht mit tauben Kolleg*innen zusammen zu arbeiten, da dies auch nachweislich die Qualität verbessert. Zudem wäre die Diskussion dann ja schon beendet.
Doch die Diskussion geht eben weiter und abseits dessen wird der Begriff der „kulturellen Aneignung“ nun vielfach verwendet, ohne ihn jedoch kritisch zu hinterfragen.
„Kulturelle Aneignung“ wurde bisher mit Musikdolmetschen und der Soko-München Folge vom 11. Februar 2018 in Verbindung gebracht [7], mehr wurde nicht besprochen. Wie verhält sich dazu die Veröffentlichung der StorySign-App von HUAWEI 2018, einer Firma, die zu Werbezwecken zeitgleich hörende Influencer*innen bezahlte um „Last Christmas“ auf Instagram zu gebärden [8]. Oder diese diversen Tanz- und Theaterprojekte – insbesondere in Berlin- , die sich inklusiv nennen, Hörende und Taube gemeinsam auf die Bühne bringen, die Gebärdensprache dabei aber eher als „künstlerisches Ausdrucksmittel“ verstehen und im Ergebnis taube Zuschauer*innen ausschließen. Da werden Szenen teilweise nicht in Gebärdensprache, nicht mal mit Übersetzung, präsentiert. Gebärdensprache wird als Dekoration der Lautsprache herangezogen, als Tanz, als Schmuck und das obwohl taube Menschen sogar an den Produktionen beteiligt sind. Doch durch die Label „inklusiv“ und „Gebärdensprache“ lassen sich eben Gelder akquirieren und selbst mittelmäßige Produktionen wirken durch diese Attribute gleich interessanter.
Und wie sieht es mit „kultureller Aneignung“ in Verbindung mit tauben Menschen aus, die etwa rappen?
Sollten sie das? Was ist mit tauben Menschen die Ayurveda-Kuren machen, ohne Ayurveda und den kulturellen Kontext zu verstehen? Taube Menschen die auf Holi-Festivals gehen? Weiße taube Menschen die Dreadlocks tragen?
Spätestens da wird die Diskussion sehr schwierig, weil Marginalisierungen nicht miteinander verrechnet oder aufgewogen werden können. Wenn sich eine Minderheit an den Merkmalen einer anderen marginalisierten Gruppe bedient, wie kann man damit umgehen? Gleich ist erstmal nur, dass beide Gruppen in Machtstrukturen eingebettet sind, in denen sie jeweils wenig mitbestimmen können. Was diese Fragen aber auch bezwecken sollen, ist das Aufzeigen von Diversität innerhalb der beschriebenen Gruppen. Denn eine Minderheit ist nie eine einheitliche Gruppe, ebenso kann dies nicht über die Mehrheits-/Dominanzkultur gesagt werden. Auch innerhalb dieser Gruppen spielen Machtstrukturen, Bildung, Einkommen und Zugangsmöglichkeiten eine Rolle. Es ist ein Dilemma – ähnlich wie bei der Debatte über Rassismus – dass der Bezug auf die jeweiligen Kulturen, ob „taub“ oder „hörend“ benutzt werden muss, um Machtstrukturen darzustellen, obwohl diese Unterscheidung die Grundlage struktureller Diskriminierung bildet [4].
Das Konzept der kulturellen Aneignung wirft also viele Fragen auf:
Was ist taube Kultur und wer gehört dazu? Ausschließlich Deaf native signers? Taube Menschen hörender Eltern? CI-Träger*innen? Spätertaubte? Taube, die keine Gebärdensprache sprechen? Oder taube Menschen, die lieber von den Lippen lesen und sich lautsprachlich äußern? Schwerhörige? Coda’s? Familienangehörige? Deaf Studies Studierende? Alle gebärdensprachkompetenten Menschen? Die Aufzählung zeigt bereits deutlich, dass ein binär konstruiertes Konzept von hörender vs. tauber Kultur nicht aufrecht zu erhalten ist. Wenn es so viele Zwischenkategorien gibt, wie aussagekräftig sind die Kategorien „hörend“ und „taub“ dann überhaupt noch?
Wer gehört zur hörenden Kultur? Und wie findet man zu einer Kultur? Wird man hinein geboren? Kann man eine kulturelle Zugehörigkeit eigentlich wechseln? Oder gar mehrere kulturelle Identitäten in sich tragen? Wann ist man legitimer Teil einer Kultur? Und wer legitimiert diese Zugehörigkeit?
Gehört man beispielsweise zur deutschen Kultur, wenn man zur Begrüßung anderen Menschen die Hand gibt oder „aufgeklärt patriotisch“ ist [9]? Kann man eine kulturelle Zugehörigkeit abgesprochen bekommen [10]?
Kultur ist sowohl allgegenwärtig als auch nicht fassbar. Dasselbe scheint für „kulturelle Aneignung“ zu gelten. Wer so argumentiert, dass er eine Kultur verteidigen will, kreiert ein binäres Bild von Kultur, kann argumentativ schnell konservativen bis rechten Theorien nahe sein und verfestigt Kategorien die eigentlich bekämpft werden sollten. Was in meinen Augen fehlt, ist eine Begriffsbestimmung für „Kultur“ und ein damit verbundener kritischer Blick auf die Theorie der sogenannten „kulturellen Aneignung“.
Kultur wurde lange Zeit als Gegenbegriff zur Natur begriffen und umfasste alle Normen, Praktiken, Techniken, Rituale, Güter und den Glauben, den eine Gruppe entwickelt hat. Kultur war zudem eindeutig einer ethnischen Gruppe, einer Sprache und einem Territorium zu zuordnen [11]. Dieses klassische Kulturverständnis bringt jedoch folgende Probleme mit sich:
- Homogenitätsvorstellung: Der klassische Kulturbegriff definiert Kultur als ein totales System, intrakulturelle Variationen werden nicht berücksichtigt.
- Macht: Machtbeziehungen innerhalb einer Gemeinschaft werden nicht mitgedacht, diese beeinflussen jedoch kulturelle Sinngebungsprozesse.
- Agency: Der klassische Kulturbegriff vergisst die Agency (Handlungsfähigkeit) der Individuen innerhalb einer Gruppe. Gruppenangehörige sind keine „übersozialisierten Individuen“ die den Regeln einer Kultur folgen, sondern die Gruppenangehörigen besitzen eine kulturabhängige Rationalität und können die Regeln der Kultur reflektieren, analysieren und dazu Position beziehen.
- Kultureller Wandel: Das klassische Kulturmodell schließt Eigendynamik aus und Kulturen könnten sich so nur im Kontakt mit anderen Kulturen wandeln. Es wäre von allein kein Wandel möglich.
Daraus ergeben sich für mich folgende Punkte, die ich problematisch finde an dem Konzept der „kulturellen Aneignung“:
1. Kulturkonzept: Das Kulturkonzept, das sich oftmals in dem Konzept der „kulturellen Aneignung“ widerspiegelt, ist ein klassisches Kulturkonzept, wie es oben dargestellt wurde und bringt die damit verbundenen Problematiken mit sich. Zudem schafft der Ansatz der „kulturellen Aneignung“ ein binäres System, in dem sich eine Dominanzkultur und eine Minderheitenkultur – hier hörende und taube Kultur – gegenüberstehen, wobei die Unterscheide in den Fokus gestellt werden, was zu einem „othering“ führt. Schließlich werden dadurch auch jene Kategorien benutzt, die es eigentlich zu dekonstruieren gilt [4,12, 13].
2. Anwendung: Das Konzept der „kulturellen Aneignung“ wird vielfach benutzt, jedoch nicht auf eine kohärente Art und Weise. Sowohl an Museen gestellte Rückgabeforderungen kultureller Güter werden mit der Theorie der „kulturellen Aneignung“ in Zusammenhang gebracht (was ich absolut unterstütze) [14], ebenso aber auch die Kritik an beispielsweise Tanzkursen oder Dreadlocks. Teilweise wird ein Urzustand von Kultur herbeigeredet, den es so gar nicht gibt [4, 12, 13]. Aus Kolonialismus resultierende institutionelle Macht – die beispielsweise staatliche Einrichtungen haben -, wird mit individuell gewählter (Frisuren-)Mode gleichgesetzt.
3. Immunität: Das Konzept der „kulturellen Aneignung“ ist autoritär und nicht falsifizierbar. Das Konzept ist scheinbar nicht bestreitbar, ohne dass man selbst audistisch bzw. rassistisch argumentiert. Die Theorie beinhaltet eine immunisierende Argumentation. Von welchem Standpunkt ist aber Kritik möglich? Letztlich werden stark verallgemeinernde Aussagen gemacht, die jedoch auf keinen Daten bzw. Fakten fußen.
4. Ggf. Essenzialisierung: Das Konzept der kulturellen Aneignung kann implizieren, dass es einen Urzustand von Kultur geben würde, einen Ursprung und möchte zu diesem zurück [ebenda]. So ausgelegt wäre das eine rückwärtsgewandte Theorie, die nicht die Vermischung von Kulturen weiter denkt, sondern rückgängig machen will.
Um sich von dem klassischen Kulturbegriff zu lösen und „kulturelle Aneignung“ anders zu denken, möchte ich daher das Kulturkonzept nach Andreas Wimmer in die Diskussion einbringen, der Kultur als einen offenen, instabilen Prozess definiert, in dem Bedeutungen ausgehandelt werden und deren Kompromissbildung letztlich zur Schließung sozialer Gruppen führt [15]. Dabei wird zwischen verinnerlichter und öffentlicher Kultur unterschieden.
Die verinnerlichte Kultur, also Habitus und Rationalität der einzelnen Mitglieder gelten als Voraussetzung des Aushandlungsprozesses, wodurch kulturelle Eigendynamiken und intrakulturelle Variationen abgebildet sind.
Die öffentliche Kultur spiegelt die allgemein verbindlichen Vorstellungen wider, welche jedoch den Prozessen des Aushandelns unterliegen. Die Diskurse sind durch Machtverhältnisse innerhalb der sozialen Gruppen geprägt, da die Mitglieder in unterschiedlichen Machtbeziehungen miteinander stehen. Diese Diskurse führen zur sozialen Schließung. Es werden kulturelle Praktiken ausgemacht, die die Grenzen der Gruppen markieren, die am Aushandlungsprozess beteiligt sind. Dies führt zur Gruppenbildung. Neben der allgemein verbindlichen Vorstellungen finden sich auch Gruppen die diese Vorstellungen ablehnen, was zur Bildung weiterer Gruppen/ Subalterne/ Subkulturen führt, welche erneut Machtverhältnissen und Aushandlungsprozessen unterliegen.
Der Prozess der Kompromissbildung ist einem steten Wandel unterlegen, es ist ein „werden“ statt ein „sein“. Wimmer wirft das Bild der Landschaft auf, in der Kulturen bzw. Gruppen an verschiedenen Orten platziert sind. Menschen können sich in dieser Landschaft frei bewegen und positionieren sich dadurch individuell, wandelbar und zwischen verschiedenen Orten gleichzeitig.
Doch was bringt diese theoretische Herleitung nun im Zusammenhang mit dem Musikdolmetschen? Ich bin der Meinung, dass es in der Diskussion eher um Zugangsmöglichkeiten, Privilegien und strukturelle Macht geht, das Konzept der „kulturellen Aneignung“ erscheint mir nicht von Mehrwert für die aktuelle Debatte. Zwar ist die Intention sehr ähnlich, der Begriff der „kulturellen Aneignung“ wird aber sowohl für strukturelle Themen herangezogen, als auch als Mittel gegen „Fehlverhalten“ einzelner Personen. Daher vermischen sich unter diesem Konzept verschiedene Themen miteinander und es birgt die Gefahr der schon genannten Essenzialisierung und des konservativen Kulturbegriffs mit sich.
Kulturelle Aneignung ist ja kein Selbstzweck, sollte nicht rufen „das ist nicht deine Kultur, du solltest das nicht tun“, sondern das Ziel sollte die Sichtbarmachung von Macht und dessen Mechanismen und Auswirkungen sein.
Die aktuelle Diskussion um das Dolmetschen von Musik und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit, Talkshowauftritte und Interviews stehen für mich ganz klar in einem Kontext von Privilegien und struktureller Machtausübung. Zwar wird durch das Dolmetschen von Musik diese auch Tauben zugänglich gemacht, allerdings liegt die Repräsentation doch bei einer hörenden Person, die dadurch Geld verdient und auch außerhalb dieser Auftritte als Agent*in tauber Kultur wahrgenommen wird. Taube Menschen sind nach Maßgabe einer machtvollen hörenden Mehrheit wesentlich „unpraktischere“ Talk-Show Gäste als Hörende. Gesellschaftliche Machtstrukturen und Gewohnheiten sind es, die tauben Menschen den Zugang zum Dolmetschen, zu Auftritten und der Auftragsakquise erschweren. Der tgsd e.V. benennt in seiner Stellungnahme zum Musikdolmetschen einen weiteren fatalen „Effekt, der sich aus dem Musikdolmetschen ergibt“, nämlich „dass die Medien auf Grund ihrer einseitigen Berichterstattung (Taube und Musik) ein pathologisches Bild tauber Menschen zeichnen, was [dem] Selbstverständnis und [dem] jahrelangen Ringen um Anerkennung als taube und Gebärdensprache verwendende Menschen völlig zuwiderläuft“ [16].
Diese Ungerechtigkeit gilt es zu durchbrechen. Und taube Kultur muss auch endlich in die hörende Mehrheitsgesellschaft getragen werden, sonst führt der Weg nur in eine Einbahnstraße.
Das hat in meinen Augen jedoch mehr mit Macht, Privilegien und Zugangsmöglichkeiten zu tun, als mit „kultureller Aneignung“. Was „kulturelle Aneignung“ leistet ist erstmal eine Zurschaustellung. Es wird im aktuellen Kontext aufgezeigt, dass Audismus bekämpft werden muss – ohne jedoch Audismus selbst zu behandeln. Man ruft es aber nur aus, der Aktivismus verharrt im Posing [17]. Die Theorie der kulturellen Aneignung hat die Stärke, Privilegien und Machtstrukturen aufzuzeigen und wenigstens im Ansatz den Privilegierten aufzuzeigen, wie es sich anfühlt, ausgeschlossen zu werden, an etwas nicht teilnehmen zu dürfen und zu fragen „warum denn nicht“, wodurch wichtige Denkanstöße geliefert werden. Privilegien zu reflektieren und Machstrukturen zu analysieren halte ich für eine wichtige Aufgabe.
Die Schwäche dieser Theorie besteht jedoch – neben einem binären Kulturkonzept als Grundlage – darin, keine gesellschaftliche Utopie zu haben, kein positives Ziel, das angestrebt werden kann. Da hilft es auch nicht ein „man darf nicht“ in ein äquivalentes „man soll nicht“ umzumünzen [18], wo es doch sowieso keine juristische Handhabe gibt. Außerdem erreicht diese Theorie mit dem „man soll nicht“ in Konsequenz nur jene, die bereits Unterstützer*innen sein wollen, jene, die sich dafür interessieren nicht rassistisch bzw. audistisch zu handeln. Menschen, denen es egal ist, werden von diesem „Kampfbegriff“ nicht erreicht und die Forderung verpufft im Dunstkreis jener, die sich bereits dafür interessieren. Die Forderung nach einem Privilegienverzicht hat noch nichts Revolutionäres an sich, sondern birgt die Gefahr der Stabilisierung des Status Quo. Was also tun?
Den Aufruf dazu, dass hörende und taube Dolmetscher*innen als gleichberechtigte Kolleg*innen zusammenarbeiten sollten, kann ich nur unterstützen [18]. Diese Zusammenarbeit sollte eine Selbstverständlichkeit sein und wir sollten uns zusammentun, um gemeinsam Arbeitsbedingungen zu erstreiten, die taub-hörende Dolmetscher*innen-Teams alltäglich ermöglichen. Nicht zuletzt, weil dadurch auch die Qualität unserer Arbeit besser wird. Und selbstverständlich sollte es sein, dass hörende Dolmetscher*innen während ihrer Arbeit einen Deaf-Space bilden, taube Kund*innen nicht diskriminieren sondern achten, respektieren und Raum geben [19].
Doch hier endet der Kampf nicht.
Ich denke, dass die Diskussion um „kulturelle Aneignung“ derzeit auch geführt wird, weil die Teilhabe tauber Menschen sich stetig verbessert. Ein Blick in die Deaf History zeigt, dass nach Gebärdensprachverbot und Oralismus nun die Kämpfe tauber Menschen allmählich Früchte tragen und Gebärdensprache immer anerkannter und verbreiteter wird. War die Gehörlosengemeinschaft früher eine klar abgegrenzte Gruppe samt Sprache und Kultur, so wird heute diskutiert, ob es nicht besser „Gebärdensprachgemeinschaft“ heißen sollte, da die Grenzen immer mehr zu verschwimmen scheinen, nicht mehr so klar zu erkennen ist, wer dazu gehört und wer nicht. Obgleich dies eher für Hörende gilt, taube Menschen erfahren Barrieren nach wie vor und daher die Grenzen stets immer wieder am eigenen Leibe. Durch diesen positive gesellschaftliche Entwicklung kommt es jedoch auch zu Erscheinungen wie dem Musikdolmetschen, was neue Möglichkeiten und neuen Diskussionsbedarf mit sich bringt. Das Ausloten dieser neuen Grenzen oder viel mehr das Verschwimmen dieser Grenzen gilt es momentan zu erforschen und möglicherweise ist die aktuelle Diskussion um die sogenannte „kulturelle Aneignung“ ein Beitrag dazu.
Was ist die Gehörlosengemeinschaft, wer gehört dazu? Was will man und wohin soll es gehen? Wie soll sich das Themenfeld „Gebärdensprachdolmetschen“ verändern? Die Rollenbilder der Dolmetschenden, nachdem Themen wie „Helfersyndrom“, „distanzierte Professionalität“ und „Ally sein“ diskutiert sind? Und wie können taube Menschen mehr mitbestimmen, wenn es um das Thema Teilhabe und Dolmetschen geht?
Eine Idee, wie es weiter gehen könnte, gab Hilde Haualand in ihrem Vortrag „A Band-Aid for a gunshot Wound? Rethinking Signed Language Interpreting“ an der Humboldt-Universität zu Berlin am 12.12.2018. Sie forderte dazu auf, die Auswirkungen von Dolmetschservices in Gebädensprachen als soziale Institution zu überdenken. Das Recht auf Gebärdensprache wird in vielen Fällen ausschließlich durch den Einsatz von Dolmetscher*innen umgesetzt, doch ein Recht auf Gebärdensprache sollte eigentlich bedeuten, dass die Angebote direkt in Deutscher Gebärdensprache angeboten werden [20].
Ob taub oder hörend, Dolmetschen bedarf einer guten und langjährigen Ausbildung, lebenslänger Weiterbildung. Doch trotz aller Qualifikationen sind Dolmetscher*innen eben nur ein Hilfsmittel, ähnlich wie ein „Pflaster für eine Schusswunde“ [20]. Ein taub-hörendes Dolmetschteam kann auch nicht die Utopie sein. Denn auch ein Dolmetschteam, das aus tauben und hörenden Personen besteht und unter guten Arbeitsbedingungen arbeitet, müsste zu einem Auftrag über zwei Stunden zu viert auftauchen. Bringt ein tauber Mensch vier Dolmetschende zu einem Termin mit, dann verändert das nicht nur die Gesprächssituation, sondern kann auch den Eindruck erwecken, dass ein tauber Mensch auf vier weitere „Helfer*innen angewiesen“ ist und sein Leben nicht allein bewältigen kann.
Es braucht stattdessen taube Menschen überall, denn Barrierefreiheit bedeutet nicht einen flächendeckenden Einsatz von Dolmetschenden, sondern Angebote für taube Menschen, die von tauben Menschen konzipiert und angeboten werden. Ganz persönlich denke ich, dass es wunderbar und oberstes Ziel wäre, wenn meine Tätigkeit als Dolmetscherin nicht mehr oder nur noch selten notwendig wäre – da taube Menschen und die Gebärdensprache bereits überall selbstverständlich und sichtbar sind. Taube Gebärdensprachdolmetscher*innen sind in der Tat ideale Teampartner*innen (nicht nur zum Dolmetschen von Musik) [16], jedoch gehören taube Menschen nicht nur auf den Platz der Dolmetscher*innen. Vielmehr gehören sie überall dorthin, wo sie hin wollen. Als Pilot*innen, Autor*innen, Performer*innen, Hebammen, Chef*innen, Urlauber*innen, … – eben überall.
Quellenverweise:
[1] taz-Artikel „Eine optische Täuschung“ von Martin*a Vahemäe-Zierold, 25. 8. 2018,
http://www.taz.de/!5525817/
https://vimeo.com/306254000 [3] Sehen statt Hören Sendung vom 19.12.2018 mit dem Titel: „Mehrwert oder nicht?
Musikdolmetschen – ein neues Angebot für Gehörlose,
https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/sehen-statt-hoeren/kulturelle-aneignung-musikdolmetschen-100.html
https://www.deutschlandfunk.de/popkultur-debatte-was-ist-kulturelle-aneignung.1184.de.html?dram:article_id=397105
[5] DPAN.TV’s Super Bowl halftime show coverage from 2017 and 2018,
https://www.facebook.com/watch/?v=2322997491258504
[6] Boudreault, Patrick (2010): Gehörlose Dolmetscher in Kanada. Teil I und Teil II. In: Das Zeichen 85/2010. Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser: Hamburg.
[7] Online-Artikel der Deutschen Gehörlosenzeitung „Kritik an Soko München: Hörende Schauspieler in tauben Rollen“, vom 15.02.2018,
https://gehoerlosenzeitung.de/kritik-zdf-soko-muenchen-taube-rollen-hoerende-schauspieler/
[8] Videos dazu unter „‚#storysignchallenge“ auf der Plattform Instagram,
https://www.instagram.com/explore/tags/storysignchallenge/
[9] Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Leitkultur für Deutschland – Was ist das eigentlich?, 01.05.2017,
https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/interviews/DE/2017/05/namensartikel-bild.html
[10] Raecke, Daniel (14.05.2018): DFB-Stars bei Erdogan. Was Deutschsein bedeutet. Ein Kommentar,
http://www.spiegel.de/sport/sonst/mesut-oezil-und-ilkay-guendogan-bei-recep-tayyip-erdogan-was-deutschsein-bedeutet-a-1207667.html
[11] Lentz, Carola (2009): Der Kampf um die Kultur. Zur Ent- und Re-Sozialisierung eines ethnologischen Konzepts. Soziale Welt 60, S. 305-324.
[12] Yenirce, Leyla: Strike a pose. Wie ich ziemlich beschämt einen Voguing Workshop verließ, Missy Magazin, 15.08.2017,
https://missy-magazine.de/blog/2017/08/15/strike-a-pose/
[13] Yaghoobifarah, Hengameh: Fusion Revisited: Karneval der Kulturlosen, Missy Magazin, 05.07.2017,
https://missy-magazine.de/blog/2016/07/05/fusion-revisited-karneval-der-kulturlosen/
[14] Ha, Noa: Kulturelle Aneignung und koloniale Gewalt, Missy Magazin, 03.11.2016,
https://missy-magazine.de/blog/2016/11/03/kulturelle-aneignung-und-koloniale-gewalt/
[15] Wimmer, Andreas 1996: Kultur. Zur Reformierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48 (3), 401-425.
[16] Stellungnahme des Berufsverbandes der tauben Gebärdensprachdolmetscherinnen und Gebärdensprachdolmetscher in Deutschland (tgsd) e.V., 26.11.2018,
https://tgsd.de/pdf/TGSD-Stellungnahme_Musikdolm-Nov2018.pdf
[17] Patsy L´amour Lalove (Hrsg./2017): Beißreflexe. Kritik an querem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Berlin, Querverlag.
[18] Stellungnahme der Gruppe „Hörend Priviligiert“, 30.11.2018,
https://www.yumpu.com/de/document/read/62252941/anmerkungen-horender-dolmetscher-innen-zu-kultureller-aneignung
[19] Youtube-Video von Petri-Swanson, Jenee: „hearing interpreters need to create asl space“, 15.11.2018,
https://www.youtube.com/watch?v=vfFHBLjhMdU
[20] Ankündigung für den Vortrag von Hilde Haualand am 12.12.2018 um 16 Uhr an der Humboldt Universität zu Berlin auf der Facebookseite der Abteilung „Deaf-Studies/ Gebärdensprachdolmetschen an der Humboldt-Universität zu Berlin, 05.12.2018,
https://www.facebook.com/deafHU/photos/a.1411665482235556/1975596682509097/?type=3&theater
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Danke für den spannenden Artikel.
Zur Verwendung von CODA: grundsätzlich haben sich Coda darauf geeinigt, CODA für die jeweiligen Organisationen zu nutzen, und Coda für die Personen.
Dazu kommt auch noch, dass Coda eigentlich Personen bezeichnet, die sich ihrer kulturellen Herkunft bewusst sind; falls nicht wird üblicherweise nur hörendes Kind tauber Eltern verwand.
Viele Grüße!
Lieber Dirk,
ganz lieben Dank für den Kommentar.
Das ist neues Wissen für mich und es tut mir leid, dass es nicht gleich richtig war.
Nun ist es auch im Text geändert und ich werde in Zukunft darauf achten.
Liebe Grüße,
angy
Danke für den tollen Artikel und die Gedankenanstöße, die ich mit Interesse gelesen habe. Ist es möglich, den Beitrag in DGS wiederzugeben? Ich halte die Diskussion zum Thema kulturelle Aneignung für sehr wichtig, und daher wäre es wünschenswert, wenn die taube Community sich daran beteiligen kann. Viele Grüße Cortina Bittner