Wenn von „Inklusion“ die Rede ist, denken die meisten an Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen, die in Regelschulen zur Schule gehen. Dass es auch Lehrerinnen und Lehrer gibt, die sich mit Beeinträchtigungen im Schulalltag behaupten müssen – davon ist keine Rede. – Fast keine. Denn seit einigen Jahren trifft sich eine Gruppe hörgeschädigter Lehrerinnen und Lehrer aus verschiedenen Gegenden Deutschlands, um sich über ihre Erfahrungen und Lösungsstrategien im Berufsalltag auszutauschen. Was sie dabei herausfinden, ist vielfältig und auch für andere hörgeschädigte Berufstätige hilfreich.
Lange erwartet und nun endlich da – und dringend nötig: Am 22.und 23. 6. fand in Köln das 3. Treffen schwerhöriger (lautsprachorientierter) LehrerInnen statt. Vor 3 Jahren ins Leben gerufen, sollte es diesmal in Nordrhein-Westfalen stattfinden. Somit kamen die TeilnehmerInnen zumeist aus Köln und Umgebung z.B. aus Bonn, Essen, Gummersbach oder auch etwas weiter her, aus Lemgo oder Münster. Eine Teilnehmerin hatte den Weg aus Würzburg zu uns gefunden.
Früh- und Spätertaubt
Bei der Vorstellungsrunde zeigte sich, dass es einen hohen Bedarf an Austausch gab. So nahm das erste Kennenlernen viel Zeit in Anspruch. Zunächst war es wichtig, über die eigene Hörschädigung aufzuklären – was uns Schwerhörigen ja im Alltag manchmal schwerfällt. In der offenen, wohlwollenden Atmosphäre unter Gleichbetroffenen und unter Nutzung der vorhandenen Höranlage nahmen wir uns vor, die Chance zu ergreifen und die Dinge beim Namen zu nennen, anstatt uns mit unserer Hörschädigung – wie unter Hörenden manchmal – anzupassen oder gar zu verstecken.
Die Hälfte der TeilnehmerInnen war seit Geburt oder seit der Kindheit schwerhörig. Die andere Hälfte war spätertaubt – großteils durch Hörstürze. Die Ausprägung der Hörschädigung war vielfältig. Während einige mittelgrad schwerhörig waren, hatten andere eine einseitige Taubheit/Schwerhörigkeit und ein gut hörendes Ohr, mit dem sie viel Nichtgehörtes ausgleichen konnten. Mehrere TeilnehmerInnen hatten seit längerem oder auch erst seit Kurzem ein Cochlea Implantat (CI) und eine Kollegin wartete auf ihren OP-Termin.
Förderschulen: Förderliches Verständnis
Ein großer Teil der KollegInnen arbeitete an Förderschulen, meist, aber nicht ausschließlich mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation. Die Arbeitsbedingungen hier beschrieben die meisten als förderlich. Schulleitung und Kollegium haben meist Verständnis für die spezielle Situation und die besonderen Bedürfnisse, die man mitbringt, wenn man ein Handicap hat. Durch die sonderpädagogische Ausbildung sind bereits Vorkenntnisse in der Hörgeschädigtenpädagogik vorhanden, die man für den Umgang mit der eigenen Behinderung nutzen kann. So kann man z.B. Kommunikationsstrategien eher selbstbewusst anwenden und eine Höranlage fachkundiger und mit größerer Selbstverständlichkeit einsetzen. Die meisten KollegInnen, die bei ihrer Arbeit auch mit hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen arbeiten, beschrieben die Beziehung zu diesen als positiv und zogen einen Vorteil aus der eigenen Selbstbetroffenheit, da sie ja als authentisches Vorbild fungieren können.
Regelschulen: Leistungsdruck und mühsame Veränderungen
Im Gegensatz dazu erzählten die LehrerInnen aus den Regelschulen teilweise von Erfahrungen, die man nicht so gerne machen möchte. Eine Kollegin, die im Gymnasium arbeitet, berichtete, dass an ihrem Arbeitsplatz nicht nur die SchülerInnen, sondern auch die LehrerInnen unter Leistungsdruck stehen. Da sei wenig Bewusstsein dafür da, dass zu einer vielfältigen, inklusiven Gesellschaft auch Menschen mit Behinderung dazu gehören und man deren Beeinträchtigung als Bereicherung für die Gemeinschaft interpretieren kann und sollte. Eine andere Kollegin erzählte davon, dass sie manchmal „Sprüche“ zu hören bekommt und das Gefühl hat, eine Belastung für die KollegInnen zu sein und sich permanent rechtfertigen zu müssen. Diese Erfahrung teilten einige KollegInnen.
Erfreulicherweise berichteten aber einige auch davon, dass sie es bereits geschafft haben, die Bedingungen an ihrem Arbeitsplatz Regelschule so weit zu verändern, dass sie gut zurechtkommen. Diese Erfahrungen waren für unsere Runde sehr wertvoll.
Gemeinsame Erfahrungen: Schwerhörig im Berufsalltag
Allen gemeinsam war jedoch, dass sie – bis auf eine Ausnahme – die einzigen schwerhörigen LehrerInnen an Ihrer jeweiligen Schule waren und sich als Einzelkämpfer durchs Schulleben und oft auch durch den privaten Alltag durchschlagen müssen. Alle berichteten davon, dass sie ihre Hörschädigung, die ja eine unsichtbare Behinderung ist, ständig erklären und immer wieder darauf hinweisen müssen, welche Kommunikationsbedingungen sie benötigen.
Strategien für den Unterricht
Alle berichteten von schwierigen Situationen, welchen sie sich im Unterricht gegenüber sehen, aber zum Glück konnten die anderen Teilnehmer gute Tipps geben, wie man sie verändern kann. Stehen die Tische der SchülerInnen z.B. klassisch in Bankreihen hintereinander, kann man sie bspw. zu einer U-Form mit Einzeltischen im Inneren des „Us“ stellen.
Eine Kollegin warf hier ein, dass sie als Fachlehrerin mehrmals täglich die Klasse und damit den Raum wechseln müsse und nicht jedes Mal die Sitzordnung verändern könne. Ein Kollege berichtete hierzu, dass er es an seiner Schule durchgesetzt habe, dass alle Klassen zu ihm in seinen eigens barrierefrei eingerichteten Raum kommen müssen.
Eine andere Kollegin erzählte von einer Absprache, die ihr sehr hilft: sie darf Förderstunden übernehmen und hat dann nur einen Teil der Klasse zu unterrichten, was die kommunikativen Bedingungen sehr erleichtert. Weitere Tipps, die LehrerInnen mit Hörschädigung das Unterrichten unter schwierigen akustischen Bedingungen erleichtern können, waren z.B. die konsequente Forderung, dass sich alle an die Gesprächsregeln halten müssen und damit verbunden die Arbeit mit einem Tokensystem, bei dem die SchülerInnen für erwünschtes (Gesprächs-)Verhalten Punkte sammeln und ab einer bestimmten Punktezahl eine Belohnung erhalten; der Einsatz einer Lautstärkeampel (entweder in Papierform an der Tafel: die Lehrperson heftet ein Zeichen bei grün, gelb oder rot – je nachdem wie tolerierbar die Lautstärke noch ist oder als elektronische Variante, bei der ein Sensor je nach Klassenlautstärke ein grünes, gelbes oder rotes Lichtsignal anzeigt); die Verteilung von Schülerämtern, z.B. als Ruhewächter, oder der Einsatz eines Timers (Kurzzeitmesser oder Eieruhr) für Phasen, in denen geschwiegen werden soll.
Als unterschiedlich hilfreich wurde angesehen, häufig Phasen der Partner- oder Gruppenarbeit einzubauen. Während einige berichteten, dass sie sich hier als Berater sehen und dank des unkomplizierten Einsatzes ihrer FM-Anlage leicht 1:1-Gespräche führen konnten, empfanden andere diese Sozialformen als zu laut. Man merkte an, dass man für Gruppenarbeiten Ausweichmöglichkeiten benötige, sodass z.B. 2-3 Gruppen auf dem Flur oder im Teilungsraum arbeiten.
Zu guter Letzt wurde auch über den Einsatz technischer Medien gesprochen. Ein Kollege erzählte, dass er für seinen naturwissenschaftlichen Unterricht öfter Erklärvideos einsetzt. Auch motivierende Apps, z.B. Kahoot! werden gern benutzt. Mit dieser App kann man bspw. eigene Multiple Choice- Quizspiele erstellen. Deren Einsatz hat den Vorteil, das die SchülerInnen die Antworten nicht reinrufen, sondern lediglich Schilder mit ihrer gewählten Antwortmöglichkeit – also, a, b, c oder d- hochhalten. Und immer wieder wurde als hilfreich ergänzt: als LehrerIn mit Hörschädigung muss man offen mit seiner Behinderung umgehen, darüber aufklären, was man braucht und dann auch selbstbewusst dazu stehen – auch wenn das am Anfang schwerfällt. Die SchülerInnen erwerben dabei ihrerseits eine Menge Sozialkompetenz und sind nach einer Weile in der Regel auch bereit, sich auf die besondere Situation einzulassen.
Die Pausen: ein weites Feld…
Ein weiteres Thema, über das diskutiert wurde, war die Pause. Statt sich zu erholen, muss man den Lärm im überfüllten Lehrerzimmer aushalten, es werden wichtige organisatorische Fragen auf dem Flur – manchmal sogar inmitten der SchülerInnen – „geklärt“ und bei der Hofaufsicht kann man den SchülerInnen wenig hilfreich zur Seite stehen, da man wenig versteht.
Eine Kollegin berichtete zu diesen Fragen, dass sie in der Pause im Klassenraum bleibt. Eine andere setzte sich Kopfhörer auf – als sichtbares Signal, dass sie im Lehrerzimmer nicht ansprechbar ist. Ein guter Tipp schien auch zu sein, dass man sich mit KollegInnen fest verabredet, um Absprachen zu treffen – natürlich in ruhiger Umgebung.
Kommunikation im Kollegium
Die Kommunikation im Team kam ebenfalls zur Sprache. Die hörenden KollegInnen vergessen oft, dass man schwerhörig ist. So ist es kräftezehrend, sich immer wieder neu bemerkbar zu machen, wenn alle durcheinander sprechen. Hier wurde als hilfreich empfunden, wenn es in der Teamsitzung eine Moderation gibt, jemand eine Rednerliste führt und ein Protokoll angefertigt wird. Der Einsatz der digitalen Höranlage (früher „FM-Anlage“) kann dazu führen, dass die Gesprächsdisziplin eingehalten wird. Mir berichten meine hörenden Kolleginnen öfter, dass auch sie von diesen Maßnahmen profitieren und es auch sie entlastet. Förderlich ist es sicherlich auch, wenn man zu Beginn eines Schuljahres – für die neuen KollegInnen – eine kurze Fortbildung zum Thema Hörschädigung organisiert. Das kann man selbst übernehmen oder sich Hilfe beim Integrationsfachdienst für Hörbehinderte holen, der dann eine Mitarbeiterschulung durchführt.
Darf man sich schützen?
Manche TeilnehmerInnen erzählten im Laufe der zwei Tage davon, dass sie manchmal ein schlechtes Gefühl gegenüber ihren KollegInnen hätten, wenn sie bestimmte Aufgaben ablehnten. Beispiel war der Einsatz im Gemeinsamen Lernen, wo man sich immer wieder auf neue Gesprächspartner einlassen muss. Hier sprachen die anderen Mut zu. Nicht jeder muss alles bewältigen können, das geht nicht nur schwerhörigen LehrerInnen so. Sich selbst zu sagen: „Ich bin gut – und zwar mindestens genauso gut wie meine KollegInnen!“ war das Credo einiger TeilnehmerInnen. Jeder sollte in sich hineinhorchen und für sich selbst entscheiden, welche Aufgaben er oder sie übernehmen kann, ohne sich völlig zu verausgaben. Im Vordergrund sollten immer das eigene Wohlbefinden und die eigene Gesundheit stehen, damit man seinen Beruf lange und erfüllt ausüben kann.
Die Teilnehmerinnen sprachen auch über Möglichkeiten, sich nach der Arbeit zu entspannen um wieder Kraft zu schöpfen. Es ist sehr wichtig, sich Zeit für den Ausgleich zu nehmen, z.B. für ein Hobby wie Malen oder Sport. Ein Teilnehmer berichtete von seiner Aikido-Gruppe, eine andere vom täglichen Training auf dem Laufband. Sehr erfrischend war für uns in diesem Zusammenhang unsere „bewegte Pause“, bei der wir alle die von einer Kollegin mitgebrachten „Smoveys“- Trainingsringe ausprobieren durften. Auch ihre Erzählungen über „Jin shin jyutsu“ gaben Anreiz, sich mit dieser ganzheitlichen Form chinesischer Heilkunst zu beschäftigen und aus ihr neue Kraft zu schöpfen.
Verbriefte Rechte bringen Entlastung
Im letzten Teil unseres Treffens ging es um die gesetzlichen Grundlagen, die für LehrerInnen mit Schwerbehinderung in jedem Bundesland festgelegt sind. Da die meisten KollegInnen aus NRW kamen, arbeiteten wir dazu u.a. die Handreichungen der Arbeitsgemeinschaft von Schwerbehindertenvertretungen für Lehrkräfte im Land NRW durch. Hier wird genau beschrieben, welche Rechte ein/e schwerbehinderte/r ArbeitnehmerIn geltend machen kann und welche Pflichten dem Arbeitgeber obliegen.
Diese Durchsicht führt zu Aha-Erlebnissen. Wir stellten fest, dass wir im Arbeitsalltag nicht um Hilfe bitten müssen, sondern unsere gesetzlich festgelegten Rechte schlicht wahrnehmen können. Diese werden im Teilhabegespräch mit dem Schulleiter jährlich neu festgelegt. So kann man die Teilnahme an einer Klassenfahrt ablehnen oder einen behindertengerechten Einsatz im Schulalltag festlegen. (*Literatur s.u.) Ich persönlich habe z.B. aufgrund meines Grades der Behinderung von 80 vier „Abminderungsstunden“, d.h. ich arbeite bei gleichem Gehalt behinderungsbedingt 4 Stunden weniger, übernehme keine Hofaufsichten und muss Vertretungsunterricht in der Regel nur in bestimmten Klassen durchführen. Das Fach Musik muss ich nicht unterrichten und ich habe eine Höranlage, die ich im Unterricht einsetzen kann. Die Aussicht, gesetzlich festgelegte Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsalltages wahrnehmen zu können, sorgte unter den TeilnehmerInnen für erleichterte Stimmung.
Was noch zu besprechen wäre…
Ein Thema, das immer wieder aufkam und auf großes Interesse stieß, war die digitale Übertragungsanlage, mit der man ein besseres Verstehen ermöglichen kann. Hier fragten sich die TeilnehmerInnen: Was gibt es? Was brauche ich persönlich? Wie setze ich es im Unterricht und bei Teamsitzungen ein? Wer übernimmt die Kosten und wie stelle ich einen Antrag? Viele der zahlreichen Fragen konnten bereits beantwortet werden. Jedoch zeigte sich, dass es günstig wäre, die Technik vor Ort ausprobieren zu können. Daher soll dieses Thema beim nächsten Treffen erneut aufgegriffen werden. Ein weiterer Aspekt, der etwas zu kurz gekommen war, ist die didaktisch-methodische Gestaltung des Unterrichts – und zwar so, dass ein gutes akustisches Verständnis möglich wird und die eigenen Ressourcen geschont werden. Auch der Aufbau verbrauchter Ressourcen soll erneut ein Teil des Austausches werden. So ist geplant, weitere Entspannungstechniken kennen zu lernen und vielleicht auch auszuprobieren. All dies soll uns beim nächsten Treffen beschäftigen. Es findet am 24. und 25. April 2020 in der Dr. Karl-Kroiß-Schule in Würzburg statt.
Fazit: Gemeinsamkeit gibt Kraft
Während ich zu Beginn unseres Treffens in teilweise zerknirschte, abgekämpfte Gesichter geschaut hatte, in denen sich Frustration und Unmut zeigten, so verabschiedeten wir uns am Sonntag mit einem gelösten Lachen: „Es war so toll, dass wir uns getroffen und ausgetauscht haben! Ich bin so froh und freue mich auf das nächste Jahr!“ Das Treffen hat uns allen Mut gemacht, weil es zeigte: „Ich bin nicht allein!“. Es war eine Tankstelle für alle Beteiligten – um offensiv, positiv mit der Hörschädigung umgehen zu können, damit wir alle unseren schönen Beruf ausüben und die wunderbaren Momente genießen können.
Zum Schluss noch eine kleine Anekdote, die Mut zum offenen Umgang mit der Hörschädigung machen soll. Ich erklärte einigen meiner neuen Erstklässler ein Mathespiel. Der Reihe nach sollen verdeckte Ziffernkarten umgedreht werden. Wer zuerst erkennt, dass mehrere Karten zusammen 10 ergeben, soll laut rufen „Ich seh‘ 10!“. Nach zwei Runden, in denen ich nicht richtig gehört hatte, wer der Erste war, erklärte ich: „Ich glaube, ich höre das nicht, wer zuerst ruft.“ Dazu hatte ein Junge einen Geistesblitz: „Ja, Frau Reineboth, du bist ja auch schwerhörig! Aber wir könnten doch den Arm hochmachen, dann siehst du, wer der Erste war.“
Noch mehr solcher Mutmachgeschichten hört ihr sicher beim Treffen am 24. und 25. April 2020 in Würzburg. Meldet euch gerne an unter s.reineboth@gmx.de. Ich freue mich auf euch!
Solveig Reineboth (Sonderpädagogin, Reinfelder-Schule Berlin)
*Literatur:
Handreichungen für die Beratungstätigkeit der Schwerbehindertenvertretung
sowie zur Information für schwerbehinderte Lehrkräfte, Personalräte, Schulleitungen, Dienstvorgesetzte Beauftragte des Arbeitgebers und andere
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft von Schwerbehindertenvertretungen für Lehrkräfte im Land NRW