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Saskia Allers
Die Schauspielerin Anne Zander
chrismon: Frau Zander, Sie können nicht hören. Bevorzugen Sie den Begriff „taub“ oder „gehörlos“?
Anne Zander: Ich finde das Wort taub völlig legitim. Auf der Homepage von Diversity Arts Culture steht: „Taub ist eine positive Selbstbestimmung nicht hörender Menschen unabhängig ob sie taub, resthörig oder schwerhörig sind. Taubheit soll nicht als Defizit angesehen werden.“ Damit kann ich mich wunderbar identifizieren. Dieses ständige Abstempeln und in Kategorien Denken ist ermüdend und oft belastend.
Anne Zander
Sie spielen in „Du sollst hören“ eine taube Mutter, deren ebenfalls gehörlose Tochter durch ein Cochlea-Implantat hören könnte. Aber die Eltern lehnen die Operation ab, weil sie finden, dass auch ein Leben als gehörloser Mensch uneingeschränkt lebenswert ist. Im Film schreitet das Jugendamt ein, es kommt zum Prozess. Wie sehen Sie das? Muss man die Gehörlosigkeit beheben, um glücklich zu sein?
Glücklich sind meist diejenigen, die aus gehörlosen Familien kommen. Das sind nur 10 Prozent. 90 Prozent kommen aus hörenden Familien, und dort kommt es oft zu Sprachdeprivation, also einer mangelnden sprachlichen Stimulation in wichtigen Entwicklungsphasen. Hörende Eltern machen sich viel mehr Sorgen um ihre Kinder, denn ihnen fehlt das Verständnis beziehungsweise das Wissen über Gebärdensprache und darüber, dass die Gebärdensprachgemeinschaft eine Kultur besitzt.
Aber es ist doch ein Fortschritt, dass es technisch möglich ist, Menschen das Hören (wieder) zu ermöglichen, oder?
Die Ärzte im Film sehen die Situation lediglich aus der medizinischen Perspektive. Für sie ist das Hördefizit ein Fehler, der „repariert“ werden muss, und beeinflussen die Eltern, ein Cochlea-Implantat (CI) einzusetzen. Einen alternativen Entscheidungsweg bieten sie nicht an. Der Film dreht sich um eine taube Familie, und natürlich lehnt Conny, die Mutter, das empfohlene CI ab. Das Kind hat alle Möglichkeiten durch den Zugang zur Gebärdensprache und -kultur. Auch die Risiken einer Operation und der Folgen im Nachgang sind Conny stets bewusst. Es gibt Vereine und Programme, die tauben Kindern zum Beispiel eine tolle Jugendzeit bescheren. Daher ist es absolut diskriminierend, dass im Film das Jugendamt einschreitet, das überhaupt keinen Kontakt zu oder Verständnis für die Welt der Gebärdensprache hat. Auch international versucht die Taubengemeinschaft, den barrierefreien Zugang und Gleichstellung umzusetzen und kämpft besonders dafür, dass dieser Zugang gehörlosen Kindern angeboten wird.
Wer konkret setzt sich dafür ein?
Unter anderem die WFD (World Federation of the Deaf = Weltverband der Gehörlosen). Sie stellen viele Informationen bereit, was die Förderung tauber Kinder betrifft. In vielen Ländern kennen die Menschen nur die alten Vorurteile über taube Menschen. Es wird zu sehr auf das Defizit geachtet, statt das Potential dieser Gebärdensprachgemeinschaft zu sehen und auszuschöpfen. Die Gebärdensprachen sind eine der ältesten Sprachkulturen. Es gibt weltweit über 200 Gebärdensprachen. Durch fehlende Aufklärung wissen viele hörende Menschen nicht, dass es so viele Gebärdensprachen gibt, die sich auch unterscheiden. Die Gebärdensprachen sind immer noch nicht als eigenständige Landessprachen akzeptiert und anerkannt. In Deutschland gibt es Deutsche Gebärdensprache (DGS) und auch Dialekte wie in der Lautsprache. Auch Hörende können davon profitieren, man spricht von „deaf gain“.
Ein Beispiel?
Etwa wenn man durch ein Zugfenster kommunizieren möchte oder über eine große Distanz hinweg.
„Nur durch Kontakt kann man beide Welten verbinden, einander verstehen und voneinander lernen“
Haben Sie es schonmal bedauert, nicht hören zu können? Fühlen Sie sich manchmal ausgeschlossen?
Früher ja, weil ich in der hörenden Welt aufgewachsen bin, zum Beispiel in der Schulzeit. Da fühlte ich mich immer anders. Jetzt nicht mehr. Durch die Aufklärung und das Wissen aus der Gebärdensprachgemeinschaft, das Empowerment, das ich bekam, die Unterstützung meiner Kollegen und Freunde, fühle ich mich überhaupt nicht mehr ausgegrenzt.
Können Sie die Angst der Familie im Film nachvollziehen, dass sich ihre Tochter von ihnen entfremden könnte?
Ich kann es sehr gut nachvollziehen. Kommunikation ist immer wechselseitig. Damit sie stattfinden kann, braucht es eine gemeinsame Sprache auf Augenhöhe.
Der Film „Du sollst hören“ wird am Montag, 19. September 2022 um 20.15 Uhr im ZDF ausgestrahlt (abrufbar mit Untertiteln und Audiodeskription). Bereits ab Samstag, 10. September, 10.00 Uhr ist er in der ZDF-Mediathek abrufbar mit Untertiteln, Audiodeskription und Gebärdensprache.
Der Film „Du sollst hören“ wird am Montag, 19. September 2022 um 20.15 Uhr im ZDF ausgestrahlt (abrufbar mit Untertiteln und Audiodeskription). Bereits ab Samstag, 10. September, 10.00 Uhr ist er in der ZDF-Mediathek abrufbar mit Untertiteln, Audiodeskription und Gebärdensprache.
Wie verständigen sich gehörlose und hörende Menschen bei den Dreharbeiten? Sind Gebärdendolmetscher dabei? Oder kommunizieren Sie viel schriftlich?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten – bei den Dreharbeiten zu „Du sollst hören“ war ein Gebärdensprachendolmetscher dabei und Kommunikationsassistentinnen. Die Kommunikation läuft auch über Körpersprache und über Schrift via Handy oder Papier. Wichtig ist einfach die Offenheit des Teams, sich auf eine andere Form der Kommunikation einzulassen.
Haben Kollegen oder Kolleginnen ein bisschen Gebärdensprache gelernt für diesen Film?
Sie wurden sensibilisiert, und einige hatten tatsächlich Interesse, Gebärdensprache zu lernen. Unser Deaf Supervisor hat unserem Team zudem Videos mit den wichtigsten Gebärden zur Verfügung gestellt. Das war schön zu sehen. Nur durch Kontakt kann man beide Welten verbinden, einander verstehen und voneinander lernen.
Was ist ein „Deaf Supervisor“? Welche Aufgabe hat er?
Der Deaf Supervisor nimmt vor allem in der Script-Continuity eine wichtige Position ein. Er achtet im Schnitt darauf, dass die Anschlüsse stimmen. Er ist auch dafür zuständig, die Texte im Drehbuch zu überprüfen und gegebenenfalls Änderungen vorzunehmen, falls der oder die Schauspieler*in etwas anders gebärdet hat, das nicht dem Text übereinstimmt. Auch im technischen Teil wie Kameraführung ist ein Deaf Supervisor ein Muss, denn die Gebärden sollten möglichst in der Totale gefilmt werden, sonst könnten manche im Bild abgeschnitten sein und man muss den Untertitel lesen. Im Film „Coda“ kann man das gut erkennen.
Kommt es manchmal zu Missverständnissen?
Missverständnisse gibt es überall, auch unter Hörenden.
Nehmen Sie am Set andere Dinge wahr als Ihre hörenden Kollegen? Fallen Ihnen Details auf, die andere nicht mitbekommen?
Ja, wir sind sehr visuell ausgerichtet. Unser Deaf Supervisor Tobias Lehmann konnte teilweise viele Dinge schneller erkennen. Da wir Körpersprache und Mimik sehr gut lesen können, erkennen wir auf einer bestimmten Ebene mehr, als Hörende es tun.
Wie sind Sie zum Schauspielern gekommen?
Ich wollte es von klein auf. Mich begeisterte das Rollenspiel und vor der Kamera zu arbeiten.
Was hätte Ihren Weg zum Film, zum Theater, erleichtert?
Dass der Zugang zu einer Schauspielausbildung einfacher gewesen wäre. Die Barrieren von damals kann ich bis heute spüren. Eine Aufnahme an einer staatlichen Schauspielschule war niemals möglich für mich, da sie zu sehr auf das Defizit der Gehörlosigkeit fokussierten. Das ist leider immer noch so.
Die Darsteller*innen, die in dem Film Gehörlose spielen, sind alle selbst taub. Hätten auch hörende Schauspieler*innen die Rollen spielen können?
Hörende Schauspielende sollten keine Gehörlosen spielen, da sie die Diskriminierungserfahrungen aus unserem Leben nicht nachvollziehen können. Ein weißer Mensch kann auch keine Person of Color spielen. Es gibt eine Definition dafür, die zutreffend ist: kulturelle Aneignung. Es gibt taube Schauspieler*innen, die eine taube Rolle authentisch umsetzen können. Zum Beispiel waren die beiden tauben Kinder im Film einfach toll. Sowas gab es noch in keinem deutschen Spielfilm.
„Das System ist so ausgelegt, dass nur ‚gesunde‘ Menschen der Norm entsprechen“
Spielen Sie lieber in Filmen mit, in denen Gehörlosigkeit das
Hauptthema ist? Oder sind Ihnen Rollen lieber, bei denen das eher
Nebensache ist?
Filme beeinflussen unsere Gesellschaft, können Denkanstöße und ein Umdenken bewirken. Ich möchte Rollen spielen, in denen meine Taubheit kein Defizit darstellt, sondern Teil einer vielfältigen und bunten Gesellschaft ist, in der es keine Norm für den vermeintlich perfekten Menschen gibt. Einige Minderheiten werden endlich von der Gesellschaft akzeptiert und respektiert, was ich voll unterstütze. Dasselbe wünsche ich mir für die Gebärdensprachgemeinschaft. Wir können genauso gut in verschiedene Rollen schlüpfen und wollen nicht nur in eine Schublade gesteckt werden, um das Klischee des Opfers zu erfüllen. Es sollte selbstverständlich sein. Schwarze, Indigene und People of Color (BIPoC) werden jetzt auch mehr verstanden, warum sollte man Taubsein immer mit negativen Erfahrungen verbinden? Der Verlust des Hörens ist sehr „audistisch“ geprägt.
Audistisch bedeutet, dass taube oder schwerhörige Menschen als defizitär wahrgenommen werden. Wie lässt sich das verändern?
Taucht man in die Welt und Kultur der Gebärdensprachgemeinschaft gehörloser Menschen ein, sieht man, dass wir durch die Gebärdensprache Glück erfahren, und Kultur. Hörende, die das einmal erleben, denken danach anders darüber. Es ist genauso, wie wenn ich viele Vorurteile über eine Kultur in mir trage und dann in sie eintauche. Ich glaube zu wissen, wie es ist. Aber die Menschen in der Kultur erleben es ganz anders. Für sie ist vieles davon normal und sie sind glücklich. Es fehlt viel Wissen über Deaf History. Das System ist so ausgelegt, dass nur „gesunde“ Menschen der Norm entsprechen. Heutzutage sollten wir wegkommen von diesem Normdenken. DIE Norm gibt es nicht. Menschen sind vielfältig. Aber die Mehrheitsgesellschaft und das Gesundheitssystem behindern uns, weil wir angeblich nicht „gesund“ seien. Also können wir genauso gut verschiedene Film-Genre spielen.
Den Oscar für den besten Film hat dieses Jahr „Coda“ erhalten. Es geht um eine Familie, in der die Eltern gehörlos sind, die aber mithilfe ihrer hörenden Tochter Fischerei betreiben können. Als die Tochter das Singen als große Leidenschaft entdeckt, kommt es zum Konflikt. Hat Sie der Erfolg des Films überrascht?
Der Film ist auf ein hörendes Publikum ausgerichtet. Natürlich ist das Singen wichtig für das Mädchen. Es ist ein spannender Konflikt, da ihre Eltern sie nicht hören, und somit wird Mitleid für das Mädchen erweckt. Für uns Taube ist dieses Thema nichts Neues. In den 1980ern gab es gab zum Beispiel den Film „Love is never silent“. Das Thema ist fast dasselbe. So funktioniert Film: Man erfindet Geschichten, und es muss immer einen Konflikt geben, sonst macht Geschichtenerzählen keinen Sinn. Die Gebärdensprache und Gemeinschaft erhalten durch solche Filme Aufmerksamkeit, trotzdem würde ich mir einen Film wünschen, indem es um taube Menschen geht und das Thema Musik keine Relevanz hat.
Was müsste sich ändern, damit taube Menschen mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können?
Wir wollen fair behandelt werden. Ich möchte die Möglichkeit haben, genauso wie hörende Menschen an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen. Aber viel wichtiger ist mir, dass wir einfach akzeptiert werden, so wie wir sind. Wichtig ist auch, dass man nicht alle gehörlosen Menschen in eine Schublade steckt. Auch wir sind eine vielfältige Community.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
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Gerhard Engel | vor 4 Monate 2 Wochen Permanenter Link
Eine sehr interessante Welt. Erinnert mich wieder an Astrid, das taubstumme Mädchen, dem wir als Kinder im Urlaub begegneten. Danke!