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Kein nachRUF für Wolfi!

Taube Community
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Nachrufe sind doch schon genug geschrieben worden, jetzt auch noch einer von mir? Was hätte Wolfgang selbst dazu gesagt? Vielleicht so etwas: „Spinnst du? Ausgerechnet dieser Begriff in der Überschrift? Bei mir kannst du rufen, so laut du willst, ich höre es doch nicht! Der pure Audismus, von Hörenden für Hörende!

Das Verrückteste: Auch bei Hörenden gibt es Nachrufe üblicherweise nur in Textform. In meinem Fall wäre der „Ruf“ total daneben. Wenn du schon schreibst und nicht gebärdest, dann nenne es meinetwegen NachSCHRIFT (aber so nennt man in der Schule Diktate) oder einfach Abschiedsbrief!“

OK, dann nennen wir es also eine

Sammlung von Erinnerungsstücken von Bernd Rehling für seinen langjährigen besten tauben Freund Wolfgang Schmidt:

Einen tief in der Sprache verwurzelten Begriff zu entfernen und durch den richtigen zu ersetzen, damit hatte Wolfgang keine Mühe. Das konnte er geradezu im Kommandoton durchsetzen: „Du musst das SO gebärden!“ Das ist nicht gerade basisdemokratisch, hat aber sicher zur schnellen Entwicklung im Hörgeschädigtenbereich beigetragen.

 1983 haben wir in Nürnberg mit einer kleinen Gruppe hörgeschädigter Pädagog:innen auf der 27. Jahrestagung des BDT (ja, der hieß 1983 tatsächlich noch so: „Bund deutscher TAUBSTUMMENlehrer“!) in der Pause das Podium besetzt. Unsere Forderung: Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern, entweder für DGS oder LBG.

Vorsorglich hatten wir eine Dolmetscherin mitgebracht: Arne Lehmbecker, Kollegin von der Gehörlosenschule Hamburg.

Unser Angebot: Sie brauchen nicht ÜBER uns Hörgeschädigte zu sprechen, sie können MIT uns sprechen. Dieses Mini-Revolutiönchen hat die ToLs (TaubstummenOberLehrer) aus der Fassung gebracht. Aufmüpfige Deafies, das hatte es ja noch nie gegeben!

Im Saal konnte man beobachten, wie ein Professor der Gehörlosenpädagogik einen der anwesenden Verbandsführer „ins Gebet nahm“ und versuchte, ihn von der Unterstützung der „Revoluzzer“ abzubringen. Es half alles nichts: Kurze Zeit später wurde der BDT umbenannt in BDH (Bund Deutscher Hörgeschädigtenlehrer). Wir hatten die hörenden Kollegi:innen aus ihrem Paradies vertrieben.

Was man auf diesem Foto deutlich erkennen kann: Wolfgang hat es sichtlich Spaß gemacht, die TOLs aus der Fassung zu bringen. Überhaupt genoss er es, auf der Bühne zu stehen und den Big Boss zu spielen. Er nutzte jede Gelegenheit, unsere Auffassungen zu verbreiten, ob nun auf KoFos, Diskussionsversammlungen oder als Laienschauspieler (wo er den gehörlosen Schulleiter Hugo von Schütz in Camberg mimte). Er war der Mann für die Bühne, ich eher für das Schreiben von Aufrufen und Artikeln.

Der Kampf für die Gebärdensprache war durchaus nicht einfach. Als Wolfgang und ich auf einer Tagung der BHSA (Bundesarbeitsgemeinschaft hörbehinderter Studenten und Absolventen) den Einsatz von DGS- und LBG-Dolmetschern forderten, hätte der Leiter Uli Hase uns beinahe rauswerfen lassen. Er plädierte für den Einsatz „sauberer Gebärden“. Gemeint waren LBG-Gebärden.

Gut, wenn Menschen dazu lernen können. Uli wurde später zum großen Propagierer der DGS, ließ sich  zum Präsidenten des Deutschen Gehörlosen-Bundes (DGB) wählen und hatte so großartige Ideen wie die Kulturtage der Gehörlosen, auf denen u.a. auch der Kulturpreis vergeben wird… genau diesen  erhielten 1997 Wolfgang und ich als Mitglieder der Gruppe um Prof. Siegmund Prillwitz, zu der auch Heiko Zienert, Alexander von Meyenn und Regina Leven gehörten.

Der Kampf für die Gebärdensprache war damit noch längst nicht beendet. Führende Persönlichkeiten im Gehörlosenbereich solidarisierten sich mit dem Lehrerverband BDH, und selbst die Initiatoren des Gebärden-Einsatzes wie Dr. Herbert Feuchte und Friedrich-Wilhelm Jürgens gründeten einen Arbeitskreis, um den von ihnen selbst befreiten Flaschengeist in die Flasche zurück zu befördern. Was ihnen nicht gelungen ist und auch nie gelingen wird.

Wie sind Wolfgang und ich eigentlich zusammengekommen, ein junger Sozialpädagoge von der Gehörlosenschule in Hamburg und ich, Lehrer an der Hörgeschädigtenschule Bremen? Ich war durchaus nicht freiwillig in den Hörgeschädigtenbereich gekommen, sondern durch ein Knalltrauma (Terroristenbombe 1974 im Tower of London – aber die Story will ich nicht noch einmal erzählen.)

MEIN Thema waren jedenfalls die „Hörgeschädigten Lehrer von Hörgeschädigten“ geworden, und über dieses Thema schrieb ich die Examensarbeit meines Sonderpädagogik-Aufbaustudiums 1981 an der Uni Hamburg.

Neben dem historischen Teil (erstaunlicherweise hatte es bis zum Mailänder Kongress 1880 durchaus taubstumme Lehrer gegeben, z.B. Otto Friedrich Kruse) hatte ich eine Umfrage an den Hörgeschädigtenschulen gemacht, adressiert an die Schulen bzw. an die Schulleitungen. Rückmeldungen waren zwar rar, aber es war schon erstaunlich und erfreulich, dass es überhaupt welche gab.

Aus Hamburg meldete sich ein junger gehörloser Sozialpädagoge. Auf die Frage nach dem pädagogischen Einsatz antwortete er: „Meine Anwesenheit in der Schule bietet gehörlosen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit der positiven Identifikation mit einem gehörlosen Erwachsenen, welche sehr wichtig ist zur persönlichen Verarbeitung der eigenen Behinderung.“ JA, genau das hatte ich gesucht! Nicht die Mitleids- oder Dennoch-Position, sondern die selbstbewusste WEIL-Haltung. Er war nicht Pädagoge, obwohl er hörgeschädigt war, sondern weil er als Betroffener von unschätzbarem Wert für die Persönlichkeitsentwicklung hörgeschädigter Schüler war! Das war MEIN Mann, mit dem musste ich persönlich Kontakt aufnehmen!

Das war der Anfang einer jahrzehntelangen Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Wolfgang und mir. Wir besuchten gemeinsam Veranstaltungen und kämpften gemeinsam für die Interessen Hörgeschädigter. Die bereits erwähnte Mini-Revolution nutzten wir z.B. mit unseren Frauen zu einem gemeinsamen Urlaub im Bayrischen Wald. Für meine Frau anfangs eine sehr harte Erfahrung. Nicht nur, dass Wolfgang unumwunden in Anwesenheit meiner hörenden Frau seine Meinung äußerte: „Du hättest besser eine taube Frau nehmen sollen“! (Die in Nürnberg versammelten Kollegen hätten konstatiert: „So sind sie eben, unsere Taubstummen, sehr direkt und wenig einfühlsam!“)

In der kurzen Zeit des Urlaubs machte sie wertvolle Erfahrungen. Wolfgang fragte z.B. ganz irritiert, was das für ein seltsames Geräusch sei, jedes Mal, wenn er auf die Toilette ging. Es war der Entlüftungsventilator, den er nicht identifizieren konnte. Und bei einem wunderschönen Sonnenuntergang fragte Wolfgangs Frau Dörte, ob man den auch hören könne. Eine für Hörende nicht nachvollziehbare Frage, die verdeutlicht, in wie verschiedenen Welten Gehörlose und Hörende leben.

Und der DGS-Crashkurs während dieses Urlaubs war einmalig. Karin (meine Frau): „So viel wie in diesem Urlaub habe ich in meinem gesamten Studium der Gehörlosenpädagogik nicht über Gehörlosigkeit erfahren!“ Unsere Gespräche waren natürlich nicht nur zweckgebunden, sondern auch ganz privater Natur. Karin sprach z.B. von ihrem Kinderwunsch, während Wolfgang lieber keine Kinder wollte. Wolfgangs und Dörtes Tochter Sara kam dann ein Jahr vor unserem Sohn Nils zur Welt. Wolfgang war ein überaus liebevoller Vater, und wenn er mit Sara bei uns zu Besuch war, nahm Sara den kleinen Nils vorsorglich bei Spaziergängen an die Hand. Einfach süß!

Die gemeinsamen USA-Kontakte sind in anderen Nachrufen hinlänglich dargestellt worden, vor allem die Reise mit Hamburger Kolleg:innen an die Gallaudet University zur Vorbereitung der Dolmetscherausbildung. Bezeichnend war, wie sich die unterschiedlichen Haltungen von Hörenden und Hörgeschädigten herauskristallisierten. Wolfgang, der sich ursprünglich (in meiner Abwesenheit, als ich den gehörlosen Kollegen Hartmut Teuber in Boston besuchte) mit dem Konzept einer ausschließlichen LBG-Dolmetscherausbildung einverstanden erklärt hatte, schwenkte sofort auf mein  Sowohl-als-auch-Konzept für DGS UND LBG um. Auf die Frage „Aber wer soll DGS vermitteln?“ war Wolfgangs Antwort „Ich kenne da zwei Gehörlose in Hamburg.“ Gemeint waren Heiko Zienert und Alexander von Meyenn.

  Mit den beiden war Wolfgang schon länger befreundet, und sie hatten gemeinsam die Schulzeitung Hammer Report und die AIG – Allgemeine Information für Gehörlose Hamburg herausgegeben – beides für die Gehörlosenwelt ungewöhnlich aufmüpfige Publikationen. Wolfgang und Alexander waren für den redaktionellen Teil verantwortlich, Heiko für die Zeichnungen. Eine Karikatur wie „Hier Mundablesen“ auf der Titelseite – das wäre an anderen Schulen sicher verboten worden bzw. auf die Idee wäre kein hörender Kollege gekommen!

 Wolfgang musste Heiko und Alexander zwar erst einmal erklären, dass DGS eine eigenständige und gleichwertige Sprache sei, aber mit Prof. Siegmund Prillwitz haben sie dann das Zentrum in Hamburg aufgebaut.

Wolfgang (Mitte) auf Newbys Hochzeit

 Aber zurück zu den USA-Kontakten. Die gingen bei Wolfgang über den professionellen Bereich weit hinaus. Zu Newby Ely hatte Wolfgang eine private Freundschaft geknüpft. Zu Newbys Hochzeit mit Patty flogen wir zwei in die USA. Newby hatte ihn zum Usher (was nichts mit Taubblindheit zu tun hat, sondern die Rolle des Begrüßers, sozusagen “Türstehers” bezeichnet ausgewählt – eine große Ehre!

Ein Foto vor einem Taubenschlag durften wir uns nicht entgehen lassen

 Newby hat 1988 für meine Klasse und mich eine Klassenreise nach Washington arrangiert, mit Unterbringung in den Familien gehörloser Gallaudet-Dozenten. Und wir kamen zufällig genau zur richtigen Zeit, um an den Siegesfeiern der „Deaf President Now!“-Revolte teilzunehmen. Newby war auch einige Male in Deutschland zu Besuch, auch bei uns in unserem kleinen Kuhdorf. Jetzt ist er übrigens gerade wieder in Deutschland, um an der Trauerfeier seines Freundes Wolfgang teilzunehmen. 

Aber er ist nicht der Einzige, der zu Wolfis Ehren eine so weite Anreise auf sich nimmt: Dr. Christian Vogler, jetzt Professor an der Gallaudet University und ehemaliger Taubenschlag-Mitarbeiter, den er schon als Schüler kannte. Bei einem Besuch Christians mit seiner Frau und den Zwillingen konnten wir uns ein Foto vor dem Taubenschlag des Forsthauses Heiligenberg nicht verkneifen.

 Ich habe Wolfgang immer wegen seiner Fitness und Sportlichkeit bewundert. Ich selbst lebe eher nach dem Churchill-Motto „No sports“, und meine Parkinson-Erkrankung ermöglicht es mir leider nicht, an seiner heutigen Trauerfeier am 25.10.24 teilzunehmen. Sechs Jahre jünger als ich! Wäre ich nicht vor ihm „dran gewesen“? Auf den mit dem Fahrrad anreisenden Wolfgang werden wir verzichten müssen. Aber mit diesem kleinen Nicht-Nachruf hoffe ich gezeigt zu haben, was er uns bedeutet.

Mir hat er den Zugang zur Welt der Tauben ermöglicht.

Danke, lieber Wolfgang!

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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Vielen Dank, lieber Herr Rehling, für diese wundervollen Erinnerungen an die Zeiten, als Wolfgang den Anstoß zur
    Revolution gab! Welch großes Glück, dass wir und unsere gehörlosen Kinder diese Zeit miterleben durften. Und wie eindrücklich Bernd noch einmal die vielen einzelnen Momente wieder in unsere Erinnerung hat rufen können, in der Wolfgangs liebenswürdigste Konfrontations-Energie die Welt um und mit Gehörlosen in die Luft schoss, damit sie anschließend mit dem verdienten Knall wieder in der Realität landen konnten. Das war hervorragend konstruktiv. Keine Bader-Meinhof Terrorismus-Art der Ablehnung, die ihm und uns eben gerade überhaupt nie gelegen haben würde. Sondern eine Neuerschaffung dessen, was auch der liebe Gott immer so hätte haben wollen. Wir vermissen Wolfgang und danken Ihnen, lieber Herr Rehling, nochmals für die Belebung
    unserer Erinnerungen an Wolfgang und seine Dreier-Gruppe in einer großartigen Revolution!

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