In einer Kooperation mit Hand Drauf, Sehen statt Hören und der Deutschen Gehörlosenzeitung hat Taubenschlag zum Thema „Gewalt gegen Taube Frauen“ recherchiert. Jedes Medium hat sich mit einem anderen Themenschwerpunkt auseinandergesetzt: Hand Drauf recherchierte zu digitalisierter Gewalt, Sehen statt Hören zu Gewalt in Partnerschaften und die Deutsche Gehörlosenzeitung befasste sich mit dem Thema Gewalt im Sport. Taubenschlag legte den Schwerpunkt auf das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“, das seit 2013 im Einsatz ist und eigentlich barrierefrei sein sollte. Doch das Angebot wird unterdurchschnittlich wenig von Tauben Frauen genutzt. Diese sind doppelt so oft von Gewalt in der Partnerschaft betroffen, doch riefen nur rund 100 über die DGS-Hilfe an. Zum Vergleich: bei den hörenden Anrufer*innen waren es über 700.000, davon 450.000 Beratungen.
Wir danken der anonymen Tauben Frau für ihr Vertrauen und ihren Bericht.
Vorab ein Hinweis: Es geht in diesem Beitrag um Gewalt, auch sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Deswegen kann es sein, dass entsprechende Situationen beschrieben werden.
Es fing schleichend an. Am Anfang waren es nur Beleidigungen und Vorwürfe. Dann Drohungen. Schubsen. Und irgendwann flog ein Objekt in Richtung meiner Tante und verletzte sie.
Jede 4. Frau erlebt Gewalt in der Partnerschaft, ob körperlich oder sexualisiert. Außerhalb Partnerschaften ist es sogar jede 3. Frau. Gehörlose Frauen sind sogar noch mehr davon betroffen. Und mittlerweile stirbt fast jeden Tag eine Frau durch ihren Partner.
Sie rief mich abends an und bat um meine Hilfe. Ich riet ihr, das Hilfetelefon zu kontaktieren, und schickte ihr den Link. Doch sie kam nicht weiter. Also übernahm ich es. Das Klicken auf den Button direkt auf der Seite klappte nicht. In meinem Tess fand ich auch keinen Button für das Hilfetelefon. Meine Entscheidung, selbst die Nummer via Tess zu wählen, verwarf ich schnell. Ich war sehr aufgeregt und fühlte mich nicht in der Lage, den Anruf durchzuführen, wenn ein Mann (GSD) oder eine mir bekannte Person drangeht.
Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen bietet seit 2013 Beratung per Telefon, Email oder Chat an. Rund 250.000 Betroffene haben hier Hilfe gesucht, über 70.000 Personen aus dem Umfeld Betroffener haben sich beraten lassen und gut 19.000 Fachkräfte haben sich Unterstützung geholt. 2013 waren es noch gut 18.000 Beratungen im Jahr, inzwischen in 2024 sind es fast 60.000.
Also entschied ich mich, direkt anzurufen. Ich habe noch Hörreste. Die Frau am Telefon war sehr nett. Zuerst verging viel Zeit damit, dass ich meinen Unmut über technische Barrieren äußerte und sie mich vom Gegenteil überzeugen wollte. Irgendwann kam ihr Tipp mit der Polizei, und dass ich das Hilfetelefon direkt via Mail über deren Homepage kontaktieren kann.
Das Hilfetelefon bietet neben den schriftlichen Beratungen auch Gebärdensprach-Beratung an, über den Telefonvermittlungsdienst von Tess wird das angeboten, allerdings nur für Windows-Computer. Wer Apple-Geräte nutzt oder Smartphones, ist ausgeschlossen.
Die Beratung mit Gebärdensprach-Verdolmetschung wurde seit der Einführung 2013 nur 100 Mal benutzt – zum Vergleich: Beratungen im Zusammenhang mit Behinderungen gab es über 27.000, in die Sprachen Arabisch wurde fast 6.000 Mal verdolmetscht, ins Russische über 3.000 Mal, in Farsi/Dari ebenfalls 3.000 Mal.
Dahingegen wurde die Online-Beratung per Chat oder Mail über 42.000 Mal benutzt. Sie macht ungefähr 10% der Beratungen aus. Es ist gut möglich, dass ein Großteil der Gehörlosen diesen Weg wählt. Statistisch gesehen ist es dreimal so wahrscheinlich, dass gehörlose Frauen/FLINTA Opfer von Gewalt werden, sie sind also eine kleinere Zielgruppe, aber überproportional von Gewalt betroffen.
Ich kontaktierte also das Hilfetelefon schriftlich per Mail. Einen Tag später bekam ich eine Nachricht mit Beratungsstellen. Ich beschrieb die Situation meiner Tante, auch dass sie taub sei. Einige dieser Beratungsstellen reagierten gar nicht. Weitere schrieben, dass sie kein Budget für GSD haben. Nur eine Beratungsstelle nahm den Fall meiner Tante an. Doch schon da gab es Probleme. Die GSD war nicht aus derselben Stadt. Viel Zeit verging, um die Kostenübernahme für die GSD zu klären. Viel Aufregung. Und am Ende bekam meine Tante zu hören, dass die Beratungsstelle viel mehr mit Prostituierten aus dem Ausland arbeite. Der Fall meiner Tante sei für diese harmlos.
Für die Betroffenen ist es alles andere als harmlos. Eine direkte Beratung wäre sinnvoll, doch ist mit technischen Hürden verbunden. Wo hörende Frauen einfach 116 016 ins Telefon eingeben, müssen gehörlose Frauen einen Windows-Rechner bedienen, der möglicherweise – heutzutage immer häufiger der Fall – der einzige Computer im Haushalt ist, und dann vielleicht auch noch vom Täter benutzt wird. Warum ist das so? Wir haben beim Hilfetelefon nachgefragt.
Es gibt gute und wichtige Gründe, weshalb die Gebärdensprachdolmetschung beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ über Tess nur über den PC/Laptop und nicht per Handy möglich ist. Diese haben wir intensiv gegeneinander abgewogen: Entsprechend der Vorgaben im Hilfetelefongesetz sind Vertraulichkeit und Anonymität wesentliche Kernmerkmale unseres Angebots. Auch bei der möglichst barrierearmen Ausgestaltung des Hilfetelefons haben wir diesen Kernmerkmalen besondere Beachtung geschenkt.
(Quelle: “Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben”)
Zurück zum Fallbeispiel. Wir erinnern uns: die Beratungsstelle, bei der unsere Erzählerin gelandet ist, arbeitet mehr mit schweren Fällen zusammen und sieht den Fall der gehörlosen Frau als nicht so schlimm an. Die Tipps:
Sie solle ausziehen. Später hörten wir diesen Ratschlag oft. Ausziehen, weggehen, Konflikten aus dem Weg gehen. Das taten wir am Anfang. Meine Tante kam am Anfang bei Freunden, Verwandten, bei mir unter. Doch irgendwann reichte ihr dieses Nomadenleben, und sie kehrte nach Hause zurück.
Er ließ sie nicht ins Haus. Schrie sie an. Schlug sie. Schubste sie an der Schulter. Schaltete das WLAN ab, um sie zu isolieren. Drohte ihr, auch mir! Er würde mich ficken, mich umbringen, weil ich ihr helfe. Ich solle ihm besser nicht über den Weg laufen.
Im Mail-Kontakt mit dem Hilfetelefon fragen wir auch: Gibt es andere Möglichkeiten der Hilfe? Sind vielleicht sogar gebärdensprachliche Beraterinnen geplant, so dass Dolmetschen nicht mehr nötig ist und direkte Kommunikation ermöglicht wird?
Nein, das ist nicht geplant. Auf diesem Weg könnten wir eine 24/7-Erreichbarkeit des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ für gehörlose Frauen nicht gewährleisten.
(Quelle: “Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben”)
Für das Hilfetelefon ist also neben dem Datenschutz auch wichtig: Der Dienst muss 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche erreichbar sein, was offenbar nur Tess gewährleisten kann.
Manchmal rief ich die Polizei. Der Lebensgefährte ist hörend und übernahm die Kommunikation mit der Polizei. Meine Tante, das Opfer, konnte sich kaum äußern. Sie rief mich via Videotelefonat an, und ich versuchte mit meinen Hörresten zu vermitteln. Und immer hieß es: „Sie müssen ausziehen, wenn die Situation zu Hause so eskaliert ist. Sie müssen das Hilfetelefon anrufen. Sie müssen eine Beratungsstelle aufsuchen.“ Hohn! Keine Wohnung frei! Zehn Anfragen am Tag und bisher nur drei Wohnbesichtigungen via Los! Und dann 150 Leute! Nichts da. Beratungsanfragen, nur Ablehnungen wegen GSD.
Seit Neuestem hilft eine hörende Frau meiner Tante. Sie kann selbst nur ein bisschen DGS, aber weil sie meine Tante begleitet, unterstützt die Beratungsstelle meine Tante.
Wäre eine App nach dem Vorbild der nora-App möglich oder eine Einbindung des Hilfetelefons in eben diese App?
Die Entwicklung einer App ist vom Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ nicht geplant. Anonymität und Vertraulichkeit wären hier nicht gegeben, die Nora-App nutzt z.B. u.a. die Standortdaten des Handys.
(Quelle: “Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben”)
Durch die Vorgaben des Gewaltschutzes sind hier enge Rahmenbedingungen gesetzt, die eine App nicht erfüllen könnte. Auch die Nutzung über Tess ist zwar möglich, aber wird eigentlich nicht empfohlen:
Zwar kann TESS regulär auch über eine App verwendet werden, allerdings gibt es keine Möglichkeit, die App kostenlos und anonym zu nutzen, da man sich hier im Vorfeld registrieren und anmelden muss. Daher ist die Verwendung des Dienstes über eine App leider nicht möglich. Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder nach Alternativen gesucht, bislang leider (noch) ohne Erfolg.
(Quelle: “Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben”)
Beratung für gehörlose Frauen? Gibt es nicht in der Stadt meiner Tante. Die in anderen Städten lehnten ab, da sie genug zu tun hatten. Und Anwälte? Niemand will den Fall annehmen, denn meine Tante bekommt Bürgergeld und mit dem Beratungsschein verdient man vermutlich nicht viel.
Und der aktuelle Stand: Beide wohnen nach wie vor zusammen, angespannt, in konfliktbeladenen Situationen. Meine Tante hat demnächst einen Termin bei der Beratungsstelle mit der netten Ehrenamtlichen. Sie meinten aber das letzte Mal, dass sie ratlos sind und vermutlich die Beratung an eine andere Stelle weiterempfehlen werden.
Ins Frauenhaus möchte meine Tante nicht. Als gehörlose Person hat sie viel Diskriminierung in ihrem Leben erlebt. Sie hat Angst, weggeschubst zu werden.
Ich bin nach wie vor auf Wohnungssuche. In mehreren Städten.
Happy End? Gibt es noch nicht. Aber ich hoffe auf eins.
Es kommen hier viele Probleme zusammen: Die eigentliche Ursache, nämlich die Gewalt, und dann der Mangel an Beratungsangeboten in Gebärdensprache, der Mangel an Plätzen in Frauenhäusern, die fehlende Gebärdensprachkompetenz dort, die oftmals fehlende Sensibilität der Polizei für Gewalt gegen Frauen und die noch öfter fehlende Sensibilität für Gebärdensprachen. Dazu ist trotz Schweigepflicht immer noch Skepsis vorhanden, ob die Dolmetscher*innen wirklich die Anonymität wahren können.
Kennt ihr Hilfeangebote, die sicher, anonym und kostenlos sind? Schreibt sie in die Kommentare.